Die Qualität eines Web-Angebots wird gegen definierte Anforderungen gemessen. Neben den klassischen Kriterien wie Funktionalität, Stabilität, Effizienz, Portabilität und Änderbarkeit liegt besonderes Augenmerk auf der Gebrauchstauglichkeit und Ergonomie (“Usability“). Diesem Oberbegriff ist das Thema Barrierefreiheit direkt zugeordnet. Dieses definiert sich als „die Nutzbarkeit von interaktiven Systemen oder Software für alle Menschen, unabhängig von körperlichen Fähigkeiten oder technischen Bedingungen ohne fremde Hilfe.“
Für die Umsetzung und Prüfung von Barrierefreiheit und Ergonomie im Prozess der Software-Entwicklung bedeutet dies, Barrieren bei der Nutzung von Oberflächen zu minimieren, um damit maximale Akzeptanz, Effizienz, Nutzbarkeit und Zufriedenheit zu erzielen.
Diesem Ziel arbeiten wir mit dem hier beschriebenen Design System entgegen, in dem wir Barrierefreiheit und Software-Ergonomie, unter Berücksichtigung der genutzten assistiven Werkzeuge, als nicht-funktionale Anforderungen in den Konzept-, Design- und Entwicklungs-Prozessen integrieren. Wir beschreiben und bewerten die Barrierefreiheits- und Ergonomie-Anforderungen an Oberflächen, um eine Konformität auf Basis der vorgegeben Anforderungen der BITV 2 zu erzielen.
Im Kontext der Usability und Barrierefreiheit gibt es eine Vielzahl von Richtlinien, Normen und Verordnungen an die Barrierefreiheit und Software-Ergonomie, die von Gesetzgebern und internationalen Gremien verabschiedet wurden (u.a. BITV 2, WCAG 2 und DIN EN-Reihen). Diese sind zentrale Bestandteile für die nachhaltige Umsetzung von Barrierefreiheit und Ergonomie in modernen Web-Anwendungen und im Rahmen der Anforderungserhebung konkret analysiert und müssen für die Umsetzung priorisiert, ausgelegt und interpretiert werden.
Abbildung der Vorgaben im Design System
Das Design System als zentrales Regelwerk steht im weiteren Verlauf allen am Prozess Beteiligten als konkrete Arbeitsunterlage zur Verfügung. Änderungen von Normen und Richtlinien fließen zeitnah in das Design System ein. Somit sind diese Änderungen immer transparent, schätzbar, plan- und durchführbar.
Zu beachten ist, dass die BITV selbst keine operationalisierbaren Anforderungen enthält, sondern nur auf internationale Normen und Standards verweist, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.
Web Content Accessibility Guidelines 2.2
Die Web Content Accessibility Guidelines Version 2.2 (WCAG 2.2) wurden vom W3C, dem führenden Standardisierungsgremium im Web, veröffentlicht und sind der weltweit anerkannte Standard für Barrierefreiheit in allen digitalen Medien. Die Anwendung dieser Richtlinien ist in der EU und den Mitgliedstaaten vorgeschrieben.
Die WCAG sind ursprünglich für Konzepter, Designer, Entwickler, Redakteure von Webinhalten etc. gedacht, aber alle der Prinzipien und Richtlinien sind auf alle Arten von digitalen Inhalten anwendbar, einschließlich mobiler Anwendungen.
EN 301 549
Die zuvor genannten WCAG sind Bestandteil der Norm zur Barrierefreiheit, werden dort aber um 32 weitere Kriterien ergänzt. Diese sind in ihrer Mehrzahl zunächst nicht zu berücksichtigen, da sie viele nicht-anwendbare Anforderungen enthalten (z. B. Hardware). Die vorherige Norm ISO/IEC 40500 (2012) ist identisch mit den WCAG 2.0 und somit obsolet.
Abgrenzung und Anwendbarkeit der Normen
Für den Umsetzungsprozess sind die folgenden Vorgaben zur Ergonomie und Barrierefreiheit relevant:
- Die Oberflächen unterliegen den Konformitäts-Anforderungen, die in der Verordnung zur Barrierefreiheit des Bundes BITV in der jeweils gültigen Fassung festgeschrieben sind.
- Die BITV referenziert direkt auf die Norm EN 301 549 in der jeweils aktuell gültigen Fassung (aktuell: Version 3.2.1 aus dem Jahr 2021).
- Die Norm referenziert wiederum in weiten Teilen auf die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1 des W3C in allen Konformitätsstufen.
- Die Veröffentlichung der WCAG 2.2 mit 9 weiteren Erfolgskriterien fand im September 2023 statt, diese werden also im Design System bereits berücksichtigt.
- Für weitere Usability-Kriterien wird die DIN 9241-Serie berücksichtigt, insbesondere der Teil -171 zur Zugänglichkeit von Software.
Die BITV legt die Standards der barrierefreien Gestaltung von Websites, mobilen Anwendungen und anderen digitalen Inhalten fest. Der in der Praxis anzuwendende Standard wird nur indirekt genannt, die BITV verweist lediglich auf die jeweils im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemachte harmonisierte Norm EN 301 549.
Diese basiert in weiten Teilen auf den WCAG 2 Level A und AA, unterscheidet aber in den Inhalten, die über diese hinausgehen nicht zwischen den verschiedenen Konformitätsstufen (A, AA, AAA = Muss, Soll, Kann gemäß RFC2119). Damit gelten sämtliche ergänzten Kriterien prinzipiell für alle Inhaltsformen. Die Anwendbar- und Umsetzbarkeit muss also einzeln bewertet und ggf. in die Anforderungen aufgenommen oder als nicht anwendbar deklariert werden.
Konformitätsstufen und Prioritäten
Die BITV priorisiert die Anforderungen nicht nach den Konformitätsstufen der WCAG, sondern fasst die Stufen A & AA zur Priorität 1 zusammen, die für ein gesamtes Webangebot gelten. Die Anforderungen der WCAG-Konformitätsstufe AAA gelten hingegen nur für ausgewählte Seiten, wie z. B. zentrale Einstiegs- und Navigationsseiten. Die Norm wiederum zitiert die WCAG wie folgt:
„Es wird nicht empfohlen, Konformität auf Stufe AAA als allgemeine Richtlinie für komplette Websites zu fordern, da es bei manchen Inhalten nicht möglich ist, alle Erfolgskriterien der Stufe AAA zu erfüllen.“
Die Operationalisierbarkeit wird durch die weitestgehende Übernahme der Struktur aus den WCAG-Erfolgskriterien bis hin zu einer nachvollziehbaren Nummerierung unterstützt. Etwaige Abweichungen in den Formulierungen sind ohne Auswirkung und vernachlässigbar.
Trotz aller strukturellen Unterschiede: Einzig durch die Erfüllung der Erfolgskriterien der WCAG 2, welche die operationalisierbaren Anforderungen beschreiben, wird die barrierefreie Nutzung der Oberflächen durch Menschen mit Behinderungen jenseits aller Konformitätsstufen erreicht. Dies gilt auch im Hinblick auf die in der Zollverwaltung eingesetzten Hilfsmittel zur Unterstützung der internen Nutzenden in ihrer Arbeit.
Nach wie vor gilt, dass eine einzelne Seite in Gänze nur als konform bewertet wird, wenn sie zu allen anwendbaren Kriterien konform ist:
„Die Anforderungen (…) sind unter Verwendung des Konzepts der Erfüllung von Erfolgskriterien (…) formuliert. Eine Webseite erfüllt dann ein WCAG-Erfolgskriterium, wenn die Anwendung des Erfolgskriteriums auf die Webseite kein ‘nicht erfolgreich’ ergibt. Das bedeutet, dass eine Webseite ein Erfolgskriterium auch dann erfüllt, wenn es Bedingungen für eine bestimmte Funktion vorgibt und die Webseite diese Funktion gar nicht verwendet.“
Neue Anforderungen aus den aktualisierten WCAG 2.2
Das Erfolgskriterium 4.1.1 Parsing, bei dem es in vielen Prüfverfahren um die Validierung von Codes geht, ist mit Stand September 2023 offiziell nicht mehr Bestandteil der WCAG 2.2. (Obsolete and removed)
Neu anwendbar auf Level A und AA